Nach elf Jahren im Evang.-theol. Pfarrverein

Erfahrungen und Erkenntnisse in elf Jahren
als Präsident des Evangelisch-theologischen Pfarrvereins Bern
http://www.evangelischerpfarrverein.ch

Im Jahr 2010 stand der Evangelisch-theologische Pfarrverein kurz vor seiner Auflösung. Er war 1867 gegründet worden als Reaktion auf den «liberalen Pfarrverein», in dem sich die fortschrittsgläubigen und bibelkritischen Pfarrer organisiert hatten. Diese Frontstellungen aus dem 19. Jahrhundert wirkten veraltet. Quer durch alle überkommenen Fraktionen ziehen sich heute in der Pfarrerschaft auf verwirrende Weise andere tiefgreifende Parteiungen. In die fragilen hermeneutisch-existentialistischen und die rechts- und linksbarthianischen Gegensätze, die in einer noch relativ stabilen reformierten Frömmigkeit ihren immer dünner werdenden Resonanzboden fanden, mischen sich die religiös-sozialen und feministischen Frage­stellungen und die charismatischen und die funktional neupietistischen Anliegen. Die pfarramtlichen Aufgaben und die universitären und die kirchenamtlichen Anleitungen zu ihrer Bewältigung sind unübersichtlich diffus. Ist es da noch gerechtfertigt, dass ein Verein aus dem 19. Jahrhundert um das zeitgemässe Verständnis seiner Aufgabe ringt? Viele Vereins­mitglieder waren der Meinung, es sei an der Zeit, sich konsequent an den anstehenden politischen Aufgaben auszurichten und den Verein mit seiner alten theologischen Front­stellung aufzulösen.

Demgegenüber war (und bin) ich überzeugt: Der Verzicht auf eine kritische theologische Arbeit liefert die Pfarrerschaft aus an das Spiel politscher Seilschaften und erlaubt es einer Funktionärselite, in den Kirchen die Schlüsselpositionen einzunehmen und sich gegen inhaltliche Rückfragen zu immunisieren.

Deshalb habe ich als langjähriges, bis dahin weitgehend passives Mitglied des Vereins für dessen Fortbestand und Erneuerung plädiert und habe mich im Frühling 2011 zum Präsidenten wählen lassen. Zuvor hatte ich die Grundlagen und Ziele für diese Übernahme des Präsidiums in einer Thesenreihe  zur Diskussion gestellt (und dabei auch zur Kenntnis genommen, dass diese Thesen nicht die nötigen kritischen Rückfragen provozierten).

Zunächst galt es, der Geschichte des Vereins, den Erwartungen der Mitglieder und den aktuellen Aufgaben gerecht zu werden. Für viele ältere Kolleginnen und Kollegen war der Verein ein Ort, wo sie Weggenossen und Freunde trafen und mit Sympathie für ihre Hoffnungen und Kämpfe rechnen konnten. Jüngere erhofften sich, dass der Verein als eine ernst zu nehmende Kraft in die bedrängenden kirchenpolitischen Umgestaltungsprozesse eingreifen könne. Sie mussten aber rasch zur Kenntnis nehmen, dass es für die kirchen­amtlichen Behörden ein leichtes ist, kritische Anfragen ins Leere laufen zu lassen, und dass ihnen selber die Kräfte fehlten, mit dem dafür nötigen langen Atem Auseinandersetzungen zu erzwingen. Die theologischen Klärungen, die mein zentrales Anliegen waren, wurden von diesen vorgegeben Interessen oft verwirrt und zugedeckt. Im Jahr 2014 zog ich auch aus dieser Erfahrung die Konsequenzen, die ich in einem kleinen Büchlein publizierte, das bis heute unerwartet viele Leser gefunden hat: «Auf Sand gebaut. Warum die evangelischen Kirchen zerfallen.» Es ist eine dezidierte Absage an alle Versuche, dem Evangelium mit kirchenpolitischen Mitteln zu neuer Strahlkraft zu verhelfen. Das Buch wurde aber – trotz seiner präzisen differenzierenden Bezugnahmen – dargestellt als ein pessimistischer, «polemischer Rundumschlag» (Theologische Zeitschrift, ThLZ Juni 2015, Frank Weyen, M.Kraft,_Auf_Sand_gebaut).

Im Evangelisch-theologischen Pfarrverein zeigten sich die Nöte von Kirche und Pfarrerschaft auf eine oft herzergreifende Weise. Hinweise auf altvertraute, einst allgemein akzeptierte Gedankenvoraussetzungen machten erfahrbar, wie leidvoll eine gemeinsam gepflegte Sprache fehlt. Auch elementare persönliche Wortmeldungen fanden nicht das gebührende Gehör. Die im religiös-sozialen Denken verwurzelten Aufforderungen zu einem bestimmten politischen Abstimmungsverhalten klangen für die Jüngeren wie Reminiszenzen aus vergangenen Zeiten, während die Älteren die Hinweise auf die dramatischen sozialen und kirchen­recht­lichen Veränderungen abhakten als eine Fortsetzung der altgewohnten Klagen über die Schwierigkeiten im Pfarrberuf.

Gelegentlich liessen sich daraus geradezu atemberaubende Erkenntnisse gewinnen. Unvergesslich ist mir eine Zusammenkunft, an der Karl Barths Kritik an Emil Brunners Nähe zur Oxforder Bewegung das Thema war. Die Reaktionen der älteren Kollegen liessen uns miterleben, dass dieser Gegensatz zwischen den akademischen Lehrern für viele zu einem Lebensschicksal wurde: Sie mussten sich entscheiden zwischen der Konzentration auf eine je wieder ganz grundsätzliche, im Dogmatischen verwurzelte Predigttätigkeit oder auf das praktische Bemühen um neue kirchliche Kommunikationsformen. Diese – reale oder vermeintliche – Alternative ging quer durch den Verein hindurch.

Ernüchtern und ermutigend zugleich war die Erfahrung, was die Worte der Bibel bewirkten und was nicht. Einerseits war offensichtlich, dass diese Worte eine elementare Verständigung ermöglichen und schon rein äusserlich das Gefühl vermitteln, dass man trotz aller Unterschiede doch mit einem gemeinsamen Anliegen unterwegs ist. Anderseits war ebenso offensichtlich, dass die Bibelworte oft nur wie nebenbei ins Spiel kamen und dass dann die Zeit und Kraft fehlte zum präzisen Nachfragen und zur gegenseitigen Klärung, inwieweit diese Worte tatsächlich dem entsprechen, was mit ihnen ausgesagt sein sollte.

Je wieder zeigte sich: Der Verein ist eine Reaktion auf die Gründung eines anderen Vereins. Das nimmt ihm die Schlagkraft, die nötig wäre, um politische Interessen durchzusetzen. Je wieder binden sich die Vereinsmitglieder selber zurück – aus der berechtigten Sorge heraus, dass sie in ihrer Abgrenzung von anderen «pharisäerhaft», selbstgerecht sein könnten. Haben tatsächlich wir recht? Und die anderen nicht? Sind nicht auch sie motiviert von beachtens­werten Erkenntnissen? Dieser latente Selbstzweifel scheint mir der innerste Grund dafür zu sein, dass der Evangelisch-theologische Pfarrverein kirchenpolitisch weitgehend erfolglos geblieben ist. Der liberale Pfarrverein stand im Einklang mit den grossen gesellschaftlichen Entwicklungen und konnte sich über Zweifel erheben durch das Gefühl, dass er sich für das zeitgemäss Richtige engagiere, für die individuelle Freiheit im Glauben und für ein Welt­verständnis, das sich problemlos mit den Grundüberzeugungen der Moderne in Einklang bringen lässt. Dieser Verein konnte sich auflösen, ohne sein Werk zu gefährden. Trotz einigen Restanzen der Theologie Karl Barths sind die Grundannahmen der liberalen Theologie zum alternativlosen Filter für die geistige Luft in der Berner Landeskirche geworden: Die Bibel­worte gelten nicht als Lichter im Dunkeln, sondern als «Urkunden des Glaubens», aus denen sich anregende Erkenntnisse für die kirchliche Frömmigkeit schöpfen lassen.

Während der zehn Jahre, in denen wir uns jeweils fünf bis acht Mal im Jahr getroffen haben, sind viele der älteren Kollegen schwächer geworden und gestorben. Jüngere Kollegen haben ihren Platz eingenommen. Die Zahl der Vereinsmitglieder und der Teilnehmenden an den Zusammenkünften ist unverändert geblieben.

Zwei Erkenntnisse meine ich nach diesem gemeinsamen Weg festhalten zu können:

  1. Die theologischen Denkmuster in der Pfarrerschaft sind zu persönlich, zu fragmentiert, zu unverbunden und zu selten in kritischen Wortwechseln geprüft, als dass sie zur Grundlage eines gemeinsamen Handelns werden könnten. Das hat auch sein Gutes: Die Gefahr eines «pharisäerhaft» selbstgerechten Auftritts von gleichgesinnt Rechtgläubigen besteht nicht.
  2. Verheissungsvoll scheint mir für die Zukunft ein disziplinierendes Denken, bei dem wir uns gegenseitig abverlangen, dass wir unsere Überzeugung und Erkenntnisse im Kanon der Heiligen Schrift verorten und sie damit kontrollierbar machen. Erst dadurch wird es legitim, eine kirchliche Aufmerksamkeit für unsere Anliegen zu beanspruchen.

Effretikon, im Januar 2022                                                                           Bernhard Rothen

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